Weingeschichten

Kellerrotz

Die Zeiten ändern sich.

Dieser Beitrag scheint älter als 18 Jahre zu sein – eine lange Zeit im Internet. Der Inhalt ist vielleicht veraltet.

Große Ereignisse warfen ihre Schatten voraus: Ein großes, sehr großes Jubiläum stand an. Die Genossenschaft, in der ich als Lehrling tätig war, feierte einen runden Geburtstag.
Die komplette Mannschaft der Genossenschaft, vom Kellermeister über den Geschäftsführer bis hin zum Stift, hatte dafür zu sorgen, dass dieses große Jubiläum in entsprechendem Rahmen abliefe. Konkret hieß das für die Angestellten: putzen, putzen und nochmals putzen.
Schließlich sollte der Betrieb glänzen, als sei er gerade frisch gebaut worden.

Mein Auftrag war es, zunächst die Kelterhalle auf Vordermann zu bringen, alle Geräte zu reinigen und dann die Wände zu streichen. Wer die Kelterhallen mittelgroßer Genossenschaften kennt, weiß, wovon ich spreche. Das sind turnhallenähnliche Gebäude mit Rohrleitungen, die um hundert Ecken verlaufen, unzählige Maischetanks und nicht zuletzt die Abbeer- und Wiegeeinrichtungen sowie die Pressen.
Aber das war okay, damit konnte ich gut leben. Die Kelterhalle würde also für die nächsten Wochen der Sinn meiner Existenz sein. Kollege Domenico, unser Italiener, bekam den Job, im Keller klar Schiff zu machen, und zwar alles, bis in die letzte Ecke. Die Damen kümmerten sich um die Abfüllhalle, das Versandteam versuchte, dem Chaos im Flaschenlager Herr zu werden. Umräumen, verpacken, es wurden Dinge zutage gefördert, die seit Jahren als verschollen galten, oder über deren Existenz schlichtweg keiner mehr Bescheid wusste, weil diejenigen, die diese Dinge einst angeschafft oder bedient hatten, längst nicht mehr lebten oder im wohlverdienten Ruhestand waren. Wie in allen größeren Kellereien, werden solche Gerätschaften auf den Speicher verfrachtet, wo sie darauf warten, für das in allen Weingegenden obligatorische Weinbaumuseum entdeckt zu werden. Nichts wird weggeworfen.

Glaubte man, mit einem Raum, oder einem Teil davon fertig zu sein, kam irgendwann der große Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft, betrachtete alles missmutig, ging zum Kellermeister und gab dort die entsprechenden Befehle, wie es seiner Ansicht nach auszusehen hätte. Auf gut Deutsch: Man wurde nie fertig!! Ich kann heute nicht mehr sagen, wie viele Tage ich damit zubrachte, nur Traubenmumien aus diversen Gullys zu fischen. Es müssen die Trauben der letzten 20 Jahre gewesen sein. Ich halte es bis zum heutigen Tage für undenkbar, einen Weinbaubetrieb so zu säubern, dass keine Trauben, oder besser gesagt, Trester gefunden wird.
Es schien mir völlig unmöglich, eine Kelterhalle ganz und gar säubern zu können. Egal, in welches Loch oder in welche Ecke man den Wasserschlauch steckte, es kamen immer wieder Trester zum Vorschein, bei deren Anblick man sich fragte, zu welchem Jahrgang die wohl gehören mochten.

Aus dem Keller kamen indes ganz andere Töne.
Das dumpfe Knattern des Hochdruckreinigers, begleitet von Domenicos Singsang italienischer Arien, drang nur spärlich in den oberen Stock. Aus allen Löchern und Abgängen des Kellers hingegen quoll Dampf: Domenico veranstaltete ein wahres Inferno aus Wasser, Dampf, Bürste und Lauge. Er hatte dabei absolute Ruhe, denn in den Keller gehen hieß in diesem Falle auch, völlig durchnässt von dort wieder zurückzukommen. Vor lauter Dampf konnte man Domenico nur unscharf erkennen. Die einzige Orientierung, die man hatte, war sein gelber Regenmantel. Nur frühmorgens oder spätabends konnte man die Katakomben betreten. Es war fantastisch, was Domenico in Kombination mit Kellerboden- und Hochdruckreiniger leistete.
Der Keller war in 3 Teile unterteilt: Zum einen der alte Holzfasskeller, der noch immer im Originalzustand war, der erste Neubau aus den fünfziger Jahren und ein Kellerneubau aus den achtziger Jahren. Domenico hatte im neuesten Teil angefangen und sich langsam in den ältesten Teil der Genossenschaft vorgearbeitet.
Die Tanks strahlten, der Boden war blitzsauber, es war nichts mehr von den vielen Millionen Kilo Trauben oder Most aus vergangen Ernten zu finden. Die Gärröhren funkelten wie neu, alle Werkzeuge lagen oder hingen an ihrem Platz, bereit, wieder an Orte verschleppt zu werden, an denen sie keiner mehr finden würde. Als ich das erste Mal in den „neuen“ Keller kam, hatte ich den Eindruck, hier sei es heller geworden, so, als hätte man neue Lampen aufgehängt. Die Chefs und der Vorstand waren voll des Lobes für Domenico, und so arbeitete er sich motiviert Stück für Stück weiter in seinem Keller.

Dann endlich war er fertig.
Die Führungsriege ging in den Keller und staunte nicht schlecht. Selbst der älteste Teil der Genossenschaft, der alte Holzfasskeller mit seinen großen, 13.000 Liter fassenden Fässern, strahlte in neuem Glanz. Dabei spielte es auch keine Rolle, dass Domenico in seinem Putzwahn versucht hatte, die Schnitzereien eines Holzfasses aus den sechziger Jahren zu reinigen. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er sie schlicht weggeätzt. Aber irgendwie konnte es dennoch gerettet werden.

In diesem Teil des Kellers war die Helligkeit extrem besser geworden. Wir dachten uns nicht viel dabei, freuten wir uns jetzt doch auf den großen Tag. Wir waren alle sicher, die Genossen würden viel Lob über uns ausschütten!! Wer hätte auch ahnen können, dass die einfachen Angestellten gar nicht zum Festakt eingeladen waren, von den Lehrlingen ganz zu schweigen! Unsere Motivation zur Reinigung wäre wohl eine andere gewesen.

Wenige Tage vor dem Festtag platzte die Bombe.
Nach vielen Tagen des Glücks über den strahlenden Keller, bemerkte der Kellermeister, dass im Holzfasskeller der gesamte, über 100 Jahre gewachsene Kellerrotz von der Decke verschwunden war. Ein alter, echter Keller ohne Kellerrotz ist undenkbar – man hütet und pflegt ihn über Jahrzehnte hinweg. Niemals würde jemand auf die Idee kommen, ihn zu beseitigen.
Zumindest so lange, bis Domenico kam!!
Alle waren fassungslos: 100 Jahre Weingeschichte einfach den Gully runtergespült.
Domenico verstand die Welt nicht mehr, für ihn war es an der Decke hängender Dreck, der selbstverständlich zum Jubiläum mit dem Dampf-Hochdruckreiniger zu entfernen war.
Sein Kommentar: „Cheefe sage: Domenico, du alles tipptopp sauber mache. Jetzt iste sauber! Warum etz Chef schimpfe, Domenico iste immer Arschloch.“

Alle Gremien schritten zur Besichtung des Unglücks, der Aufsichtsrat, der Vorstand und der Beirat, jeder musste sich persönlich davon überzeugen, dass der Kellerrotz tatsächlich verschwunden war.
Der Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft plusterte sich auf und brüllte durch die Gebäude, fassungslos suchte er den Kellerrotz, der – wie gesagt – durch den Gully entschwunden war.
Der Herr Vorstandvorsitzende stellte alle zur Rede, aber es half nichts. Dem Italiener war anbefohlen worden, alles sauber machen. Da sich keiner der Herren die Arbeit selber zumuten wollte, kam es eben zum Malheur: Domenico hatte sauber gemacht, und zwar richtig!!

Übrigens: Unter dem Kellerrotz kam ein fantastisches Gewölbe zum Vorschein, dessen Zustand absolut makellos war und die hohe Baukunst der damaligen Zeit eindrucksvoll dokumentierte. Unter dem Gesichtspunkt der Schönheit hatte der Keller zweifelsohne an Attraktivität gewonnen.

Info Kellerrotz:
Kellerrotz ist ein fast schwarzer Schimmelpilz, der sich in Weinkellern unter optimalen Bedingungen bildet.
Sein richtiger Name ist Cladosporium cellarii. Dieser Pilz ernährt sich aus den flüchtigen Substanzen des Weines, vornehmlich Alkohol. Eine besondere Eigenschaft dieses Pilzes ist, dass er die Luftfeuchtigkeit reguliert und somit entscheidend zum guten Klima in Weinkellern beiträgt. Ist die Luftfeuchte zu hoch, nimmt der Kellerrotz sie auf, ist sie zu niedrig, gibt er die Luftfeuchte wieder ab.
In den gut belüfteten Weinkellern der heutigen Zeit ist Kellerrotz selten geworden. Wie der Pilz selbst, verschwindet auch mehr und mehr sein ursprünglicher Name und wird durch Bezeichnungen wie „Kellerschimmel“ ersetzt. Schade eigentlich, denn er sieht nun mal aus wie Rotz!!

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